"Gewalt"

Warum Gewalt normal ist...
von Prof. Karl Otto Hondrich

"Sie entspringt jenseits von Gut und Böse. Sie entsteht aus vielerlei Gründen. Sie ist überall.



Von dieser Definition des Soziologen Heinrich Popitz kann man auch ausgehen, will man Gewalt begreifen lernen. Sie enthält einen "engen" Begriff von Gewalt - im Gegensatz zu der modischen Neigung, jede Art von Zwang und Verletzung, also alles und jedes als Gewalt zu bezeichnen. Und sie ist doch zeitgemäß und nahe an unserem Alltagsverständnis, für das Gewalt mehrfach negativ besetzt ist:

als Machtakt,
als Verletzung anderer,
als Abweichung von der friedlichen Normalität.

Allein in diesen drei Eigenschaften springt der "Unwert" von Gewalt so sehr ins Auge, dass eine unvoreingenommene Prüfung von Prozessen und Funktionen der Gewalt gar nicht mehr nötig - und möglich - erscheint.

Wo Gewalt so selbstverständlich als böse angenommen wird, ist auch der Kampf gegen das Böse selbstverständlich. Alle Anstrengungen konzentrieren sich darauf, das Übel an der Wurzel zu packen. Entsprechend interessiert sich sozialwissenschaftliche Forschung eher für Ursachen von Gewalt als für Gewalt selbst. Sie beschreibt die jeweiligen Erscheinungsweisen des Übels - Jugendgewalt, Gewalt in Familien, Gewalt gegen Fremde - und sucht die Gründe in psychischen oder sozialen Problemen. Dahinter steht die Hoffnung, dass Gewalt als soziales Problem aus der Welt verschwinde,wenn andere Probleme wie soziale Ungleichheit und Unterdrückung oder Verlust von Werten gelöst werden.

Diese Sicht verharmlost und unterschätzt Gewalt. Gewalt ist nicht nur Ausfluss von sozialen Problemen, sondern auch deren Lösung. Sie ist nicht nur eine Störung der Normalität, sondern deren Teil. Sie ist nicht an sich krankhaft und böse. Sie entspringt jenseits von Gut und Böse, als eine elementare Kraft des sozialen Lebens.
Gegenüber den Kräften der Zerstörung, des Zerfalls, muss sich das Leben, obwohl aus ihnen hervorgegangen, ständig behaupten. Das Leben selbst ist eine Gegengewalt, eine gewaltige Ordnungsleistung. Gewalt, die wir in Menschen verkörpert sehen und irrigerweise als deren individuelle Eigenschaft auffassen, ist in Wirklichkeit eine Eigenschaft der Beziehungen zwischen Menschen. Sie stört und ordnet diese Beziehungen zugleich.

Wo soziales Leben vorhanden ist und vor sich geht, ist auch Gewalt vorhanden. Denn ohne Durchsetzung in Machtaktionen und ohne Verletzlichkeit ist Leben nicht denkbar. "Das Leben" besteht aus einer Vielzahl von Lebewesen und ihren Beziehungen untereinander. Die Vielzahl der Lebewesen - Individuen und Gruppen - ist keine einheitliche Masse, sondern durchzogen von Differenzen und Dissonanzen. Um sich in ihnen behaupten zu können, brauchen die einzelnen Macht: die Chance, sich auch gegen Widerstreben durchzusetzen. Ist dies nicht auch ohne Macht möglich, durch Übereinstimmung wirtschaftlicher Interessen und /oder moralischer Werte und Rechtsregeln?

Im Prinzip ja. In der Geschichte war es allerdings nicht so. Und in der Zukunft sieht es noch weniger danach aus. Die Wirklichkeit arbeitet dagegen: Die Dynamik moderner Gesellschaft vergrößert die wirtschaftlichen und kulturellen Ungleichheiten, im kleinen wie im großen. So erschafft sie sich selbst die Machtverhältnisse, mit deren Hilfe sie ihre inneren Unvereinbarkeiten und Konflikte in Schach hält. Wenn Macht im Beziehungsleben unvermeidlich und unersetzbar ist: Soll und kann es dann nicht wenigstens die friedliche Macht des wirtschaftlich Stärkeren, des Religionsführers, des Weltphilosophen sein, die sich auf lange Sicht und gewaltfrei durchsetzt - also ohne und gegen die besondere Art von Macht, Gewalt genannt, die auf körperliche Verletzung und Tod hinausläuft?

Auch hier lautet die Antwort: im Prinzip ja. Und auch hierzu gibt die Wirklichkeit andere Antworten: Im Leben aller Gesellschaften und der meisten Menschen gibt es Güter und Werte - Gerechtigkeit, Freiheit, der Schutz der Liebsten - die für wichtiger genommen werden als die Unverletzbarkeit des andern, ja sogar des eigenen Lebens. Gewalt als unmittelbar wirkende, schmerzende Machthandlung enthält die Botschaft, dass das ohnehin verletzliche und sterbliche individuelle Leben nicht das höchste Gut des Lebens schlechthin ist. Und als weitere Botschaft: dass eingefahrene Machtverhältnisse nicht unverbrüchlich und an sich besser sind als spontane Gewalt-Macht. Gewalt ist eine Alternative, wenn andere Arten der Macht der Spannungen in sozialen Beziehungen nicht (mehr) Herr werden.

Mögen wir Gewalt als unmoralisch empfinden: sie hat einen moralischen Kern in ihrer Funktion, Ordnung in Frage zu stellen und in der Reaktion darauf zu bestärken oder in eine andere Art von Ordnung überzuführen.

Es gibt deshalb Gewalt aus vielen Gründen und Absichten:

umstürzlerische,
bewahrende, verzweifelte,
wohl überlegte,
ziellose
und zielgerichtete ...

Und es gibt die Gewalt, die sich ohne Absicht, wie von selbst einstellt; nicht als Folge von Gewalt und Frustration, sondern als Folge von Wert-Erfüllung. Liebe kann in Gewalt umschlagen - allein dadurch, dass die Übereinstimmung aus ihr entweicht: ohne seelische Übereinstimmung wird körperliche Annäherung verletzend, das Verweigern der Nähe ebenso, das Dringen auf Nähe erst recht.

Wo fängt Gewalt im engeren Sinne als körperliche Verletzung an - und wie ist sie von den Verletzungen individueller und gemeinsamer Gefühle zu trennen, die ihr vorausgehen und folgen?

Menschen sind nicht nur als Einzelwesen körperlich und seelisch verwundbar, sondern auch in ihren Zugehörigkeiten, als kollektive Wesen, als Staatsbürger. Ob in den engen Bezügen der Liebe oder in den weiteren Bezügen des Staates: Bildung und Verlust kollektiver Identitäten und Gewalt hängen zusammen. Die Entstehung der neuen Staaten auf dem Balkan ist dafür ein Beispiel. Kann man den Zusammenhang nicht durchbrechen - durch die Forderung nach Gewaltlosigkeit und das Gelöbnis, Konflikte nur in Übereinstimmung zu regeln? Je größer der moralische Anspruch auf Übereinstimmung ist, desto mehr werden schon kleine Abweichungen als empörend und verletzend empfunden. Je mehr das Gebot der Gewaltlosigkeit herrscht, desto mehr steigern sich die Ansprüche, dass es überall und von allen befolgt wird. Je mehr sich diese Ansprüche steigern, desto mehr erscheinen schon kleine Verletzungen, gestern noch als "normal" empfunden, heute als Gewalt. Gewalt wird nicht nur durch Gewalt fortgezeugt. Auch die Wirklichkeit und die Moral der Gewaltlosigkeit erzeugen Gewalt - subtil, auf Umwegen, auf höherem Niveau. Gewalt, in der einen oder andern Lebenssphäre zurückgedrängt, sucht sich ihren Ausdruck ganz woanders.Wer die Gewalt vorrangig auf einem Feld sieht und bekämpft, etwa als Jugendgewalt oder als Gewalt gegen Fremde, verkennt die Vielgestaltigkeit von Gewaltformen und ihre Funktion für gesellschaftliche Ordnung insgesamt.

Der Fortschritt der Zivilisation, den wir als Verschwinden von Gewalt feiern, ist nichts anderes als Verdrängung und Umverteilung von Gewalt: Aus den Vormachtkämpfen vieler kleiner Gewalthaber gehen wenige große als Monopolisten der Gewalt hervor. Sofern es ihnen gelingt, kraft überlegener Gewalt alle andern Gewalten auf ihrem Territorium zu unterdrücken, erlangen sie für diese Ordnungsleistung Legitimität und Rechtsförmigkeit. Der Prozess wird Staatsbildung genannt. Je legitimer und damit sicherer die Staatsgewalt ist, desto mehr kann sie Ordnung durch Recht gewährleisten - und braucht als Gewalt nicht mehr in Erscheinung zu treten.Wir neigen dazu, sie zu vergessen. Aber im Hintergrund bleibt sie erhalten und muss es bleiben: Gewalt als Garant des Rechts. Die Garantie gilt nur innerhalb des Staatsgebiets. Gegenüber Bedrohungen von außen - durch die Gewalt anderer Staaten oder internationalen Terrorismus - ist Staatsgewalt auf sich selbst angewiesen, solange übernationales Recht nicht wirklich durch ein übernationales Gewaltmonopol garantiert wird.

Wo Gewalt heute zwischen Staaten militärisch in Erscheinung tritt, geht es vorder- HINTERGRUND gründig um nationale Interessen oder Werte - hintergründig aber immer auch darum, ob und wie sich faktisch ein übernationales Gewaltmonopol herausbildet. Ein solches Gewaltmonopol kann nicht auf dem Rechtswege erlassen werden - sonst müsste es längst bei den Vereinten Nationen, der UNO, vorhanden sein. Die Ordnung der Gewalt wird nicht durch Recht und Vertrag ausgehandelt, sondern ergibt sich, in einem ungeplanten Prozess, durch Gewalt und Gewaltdrohung selbst. Nicht nur international gehen Umverteilungskämpfe zwischen Gewalten und Gegengewalten weiter, sondern auch innerhalb der Staaten, in denen die Dinge doch gelaufen zu sein scheinen. Selbst die befriedeten und hoch legitimierten Demokratien können Gewalt im Innern nicht abstellen. Die Raten der Gewaltverbrechen bezeugen es.

Wenn Gewalt auf allen Stufen und in allen Äußerungen des sozialen Lebens - von der Liebe über den Staat bis zur Weltgesellschaft - vorhanden ist, wenn sie nur umverteilt aber nicht im Ganzen verringert, nur verdrängt aber nicht abgeschafft werden kann - ist dann nicht jeder Versuch, Gewalt zu bekämpfen, zum Scheitern verurteilt?

Dem ist nicht so. Jeder einzelne Typus von Gewalt kann zurückgedrängt, jedes einzelne Feld der Gewalt trockengelegt werden. Heute wird die Gewaltneigung von jungen männlichen Migranten von manchen als so problematisch definiert, dass sie dem ihre Energie zuwenden. Es lassen sich unterschiedliche politische Folgerungen denken, die das Problem lösen werden: man kann die Zahl der jungen Zuwanderer verringern - dies ist durch politische Kontrolle, also Gewalt möglich. Oder man kann ihnen mehr schulische, sozialarbeiterische Zuwendung widmen: auch dies erfordert den Einsatz staatlicher Mittel mit sanfter Gewalt. Oder man kann vorbeugend integrieren: beispielsweise Arbeitsplätze speziell für die Problemgruppe schaffen ...

Immer ist der Staat gefragt: Wendet er seine knappen Mittel, ob Geld, Fürsorge oder Gewalt, einer Problemgruppe zu, dann weckt er anderswo Frustrationen, Begehrlichkeit und latente Gewalt. Versucht er seine Mittel zu vermehren, so muss er sie an anderer Stelle aus der Gesellschaft herausziehen. Was sich dort an Gewaltmöglichkeiten mindert, wird der staatlichen Gewaltmaschinerie im weitesten Sinne zugeschlagen. So können zwar einzelnen Problemgruppen die Gewalt oder gar die Probleme selbst ausgetrieben werden, an anderer Stelle aber tauchen sie wieder auf: als legitim - deshalb fast unbemerkt - anwachsende Staatsgewalt oder als illegitime, deshalb schon in kleinen Dosen erschreckende, Gegen-Gewalt.

Die Sozialwissenschaftler, die sich eines öffentlich diskutierten Gewaltproblems annehmen und auf Abhilfe sinnen, können als Ursachen-Forscher durchaus erfolgreich sein. Sie müssen wissen, dass die Aufgabe der Gewaltbekämpfung der des Sisyphos gleicht, der seinen Stein unablässig einen Berg hinauf wälzte, von dessen Gipfel er immer gleich wieder hinab rollte. Die Aufgabe der Gewaltbekämpfung endet nicht mit einem Sieg und findet nie ein Ende.

Trotzdem ist sie nicht sinnlos. Allerdings liegt der Sinn nicht in dem erklärten Ziel, Gewalt auszumerzen, sondern unbeabsichtigt darin, die Einheit der Gewaltgegner herzustellen. Ohne Gewalt wäre "Gewaltfreiheit" nicht als Normalität zu begreifen. So ist Gewalt im sozialen Leben zugleich Gegenstück und Bestandteil der Normalität.
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