"Toleranz"

 

Riskante Toleranz
von Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer


I. Toleranz als Problem

Toleranz ist einer der meistgebrauchten Begriffe und auf Tagungsprogrammen besonders groß gedruckt. Dagegen scheinen die anderen Begriffe wie Identität und Anerkennung nicht unwichtig, aber nachrangig.
Dies ist ein Problem, weil Toleranz in ihren öffentlich dominierenden Interpretationen und Verhaltensaufforderungen nicht die Lösung von schwierigen interethnischen oder interreligiösen Beziehungen darstellt, sondern Teil des Problems ist. Dies gilt zumal in internationalen Debatten, denn das Verständnis von Toleranz, tolerance, oder tolérance ist drastisch unterschiedlich. Wenn trotzdem dieser Begriff in diesen insofern "bewusstlosen" Debatten insbesondere der "globalisierten" Eliten aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Journalistik und Kunst undifferenziert auftritt, ist höchste Vorsicht geboten.

· Toleranz als Problem-"Alleskleber"

Denn spätestens dann wird "Toleranz" zum "catch-all-term", gewissermaßen zum "Alleskleber" der Probleme, die zudem vielfach auf "Diversity" reduziert werden, also auf die kulturelle Verschiedenheit als Kern der Probleme. Damit werden aber wichtige Aspekte abgekoppelt: Sozialstrukturelle Entwicklungen mit ihren Integrations- und Desintegrationsdynamiken, die durch ökonomische Globalisierung auf Touren gekommen sind, und die dadurch entstehenden prekären Lebenssituationen vieler Alteingesessener wie Migranten.

Fühlen wir uns doch nicht so gleichwertig? Dadurch wird übersehen, dass gerade durch diese Prekarität erst die entzündungsfähigen Ingroup-Outgroup-Abwertungen auftreten und in Hass, Wut und Gewalt münden. Dies geschieht umso mehr, wenn Eliten z.B. zwischen nützlichen und unnützen Gruppen unterscheiden oder Menschen - wie z.B. ein Konzernlenker - bestimmte Menschen als "Wohlstandsmüll" etikettieren. Ein so dominierter Elitediskurs ist entweder von beängstigender Ahnungslosigkeit geprägt - über die Prozesse im gesellschaftlichen Alltag, also die Bedingungen des Zusammenleben-Könnens, aber auch Zusammenleben-Müssen, etwa in segregierten Stadtvierteln. Oder es handelt sich um gezieltes, von Überlegenheitsattitüden durchsetztes Kalkül. Denn eine Betonung kultureller Differenz zementiert in der Regel die soziale Ungleichheit. Eine so geführte Debatte ist alles andere als menschenfreundlich, denn sie sichert Privilegien - und hat zudem den "positiven" Nebeneffekt für die Debattenträger, dass die eigenen Kinder von der Konkurrenz durch Migrantenkinder verschont bleiben.

· Großherzige Abwertungen

Toleranz ist also gefährlich attraktiv - und die Gegenargumente liegen parat. So sei es nicht gemeint. Die alten Toleranzkonzepte ließen sich nicht mehr mit den modernen Vorstellungen vergleichen. Dies ist eine Standardantwort, die wenig mit der Empirie unseres "schmuddeligen" gesellschaftlichen Alltags zu tun hat. Denn hier dominieren immer noch die Haltungen, wie sie schon Goethe charakterisiert hat. Danach meint dieser Begriff vor allem Duldung und ist damit gleichzeitig eine klammheimliche Abwertung, ja verdeckte Ungleichwertigkeit des Anderen in großherziger Verkleidung. In Toleranz steckt immer schon der Machtunterschied. Toleranz können sich immer nur die Mächtigen leisten, die Ohnmächtigen können die Mächtigen nicht tolerieren, sondern sich nur ducken. Ähnlich verhält es sich im Verhältnis von Mehrheit und Minderheit. Die Mehrheit kann tolerieren, nicht aber die Minderheit etwa die Mehrheit. Hier herrscht durch den Begriff der Toleranz eine Asymmetrie der Beziehungen. Auch die gelegentlichen Zusätze wie "aktive Toleranz" oder "produktive Toleranz" sind nur von hilflos taktischer Natur, denn sie ändern nicht das Entscheidende, die Asymmetrie der Beziehungen.
Zugleich können wir vielerorts eine gespaltene Toleranz feststellen: Eine Duldung von Fremden ist dann erwartbar, wenn es um volkswirtschaftlichen Nutzen geht. Sie ist gekoppelt mit gleichzeitiger Nicht-Akzeptanz von Fremden im politischen System oder in öffentlichen Angelegenheiten.

· Herablassung erzeugt Wut

Auf diese Art und Weise produziert auch ein so geführter Elitediskurs über Toleranz und die abgekoppelte Alltagspraxis von "Toleranz" ein problematisches Gemisch verkleideter Überlegenheit auf der einen und Unterlegenheitsgefühle auf der anderen Seite. Diese Form von "Toleranz", die sowohl von Eliten in ihren Diskursen und der Mehrheit im Alltag jederzeit "aufkündbar" ist, schafft nicht selten Hass und Wut in der Minderheit. Hass und Wut sollen dann zugleich mit Toleranz besänftigt werden. Dies sind aberwitzige Vorstellungen, die nur eines verdeutlichen: Ein Nachdenken über die Alltagsprozesse findet nicht statt. Es dominiert ein "Postulatenwettbewerb" in einer abgetrennten Welt feiner Tagungshäuser etc. Wenn dann von einem neuen "Weltethos" gesprochen wird, das keine Feindbilder brauche, existiert ein Problem. Solche Aussagen haben mit der gefährlichen Realität interethnischer und interreligiöser Konflikte und Gewalt nichts zu tun. Solche Postulate enthalten keinen Gedanken über die Entstehungs- und Eskalationslogiken. Die Frage stellt sich ziemlich drastisch. Wozu brauchen wir solche Postulate? Vernebeln sie nicht unsere Welt noch mehr und beruhigen sie uns auf gefährliche Weise?

II. Worin besteht das Problem?

Menschen wollen wahrgenommen werden. Das asymmetrische Toleranzkonzept erzeugt problematische Beziehungen, von denen zuallererst die Indifferenz zu nennen ist: Personen werden nicht wahrgenommen. Wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts. Dies ist identitätszerstörend. Zugleich erzeugt Toleranz auch Opferrollen, etwa bei Minderheiten. Dies kann einerseits dazu führen, dass selbstkritische Haltungen etwa in Minderheiten kaum angeregt werden. Andererseits lädt Toleranz auch zur Instrumentalisierung etwa von Fremdenfeindlichkeit durch Minderheiten ein, wenn sich deren neue Eliten davon eine Verstärkung ihrer eigenen Machtposition versprechen.

· Toleranz lässt sich missbrauchen

Eine ganze Reihe von weiteren negativen Folgen lassen sich aufzeigen. Nicht zuletzt zementiert Toleranz allzu schnell etwa die auf Traditionen basierende Benachteiligung, z.B. von Frauen im Islam hinsichtlich des Ehe-, Erb- und Familienrechts. Es kann auch zu "Toleranzschocks" kommen, wie sie die Niederlande durch das Wirken des ermordeten Politikers Pim Fortuyn erlebt haben. Dieser wurde von einem Iman wegen seiner Homosexualität diskriminiert. Die holländische Toleranzgesellschaft wurde dann massiv durchgerüttelt, als Fortuyn daraufhin den als besonders tolerant gemeinten Antidiskriminierungsparagraphen in der Verfassung gestrichen haben wollte, um sich gegen die Diskriminierung aufgrund seiner sexuellen Vorlieben durch eine religiöse Minderheit zur Wehr setzen zu können. In diesem Vorgang zeigt sich eine neue Variante "repressiver Toleranz", die im Falle der Niederlande zur Regierungsbeteiligung von Rechtspopulisten mit nicht absehbaren Folgen für das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit führen dürfte. Jüngste Untersuchungen z.B. zum Verhältnis von holländischen und muslimischen Jugendlichen stimmen nicht optimistisch.
Wer mag tolerieren, dass einer nicht tolerant ist? Ein weiteres Problem ergibt sich dadurch, dass der Begriff "Toleranz" immer auch moralgesättigt ist. Die Folge: Je höher die Moral, desto geringer sind die Kommunikationschancen zwischen Gruppen: Sprachlosigkeit droht. Und noch eines kommt hinzu: Unter dem Deckmantel der Toleranzforderungen schlummert zugleich die kommunikationslose Intoleranz gegenüber jenen, die die einseitig aufgestellten Moralforderungen nicht erfüllen wollen oder können. Kurz: Toleranzmoral und Intoleranz liegen im wahrsten Sinne des Wortes hautnah beieinander.

III. Wie heißt die Alternative?

Alles was bisher zum riskanten Begriff "Toleranz" gesagt worden ist, basiert auf der fatalen Vernachlässigung der Interaktion, d.h. der Wechselseitigkeit der Beziehungen, und der Überbetonung des Kulturellen, also der Lebensweise. Toleranz ist ein einseitiger Prozess und begünstigt nicht den Zusammenhalt einer kulturell heterogenen und sozial ungleichen Gesellschaft.

· Wir müssen reden

Die Alternative ist Anerkennung. Dieses Konzept hat große Vorteile gegenüber Toleranz. Statt eines einseitigen Prozesses dominiert die Wechselseitigkeit. Anerkennung setzt die Auseinandersetzung mit dem Anderen voraus, also Mehrheit mit Minderheiten und Minderheiten mit der Mehrheit. Diese Auseinandersetzungen sind zu organisieren und zu institutionalisieren. Toleranz basiert dagegen vielfach auf riskantem Desinteresse, Ignoranz und Gleichgültigkeit. Insofern ist diese Toleranz auch "billig" zu haben - und ist nichts wert. Unsere Untersuchung zu Konflikten um Minarettbauten und Muezzinrufen in westdeutschen Großstädten zeigte u.a. folgendes Ergebnis. Die Bewohner "besserer" Wohngegenden wurden in Interviews zuerst zum grundsätzlichen Recht von Muslimen gefragt, ihre Religion in angemessenem Rahmen leben zu dürfen. Die Zustimmungen waren überwältigend. Am Ende des Interviews wurde die Frage nach der Befürwortung solcher Bauten und Rituale im eigenen Wohnviertel gefragt. Das Ergebnis ist zu erahnen. Die Zustimmungsraten brachen drastisch ein und ein ungenannter Abgrund tat sich auf: die Grundstückspreise könnten sinken. Mithin sind diese Vorgänge von Ablehnungen und Ausgrenzungen keineswegs auf die vielfach genannten "Unterschichten" als "gefährliche Gruppen" zu begrenzen. Angehörige anderer Milieus können die Distanz oder Ablehnung nur besser kaschieren, weil die Kontaktdichte oder der Kontaktzwang im gemeinsam geteilten Sozialraum nicht vorhanden ist.

· Wer streitet, kann sich auch mögen lernen

Anerkennung ist also "teuer", weil anstrengend und konflikthaft. Auseinandersetzungen haben aber auch viele Vorteile, weil man einerseits zur Perspektivenübernahme animiert wird, also: Warum verhält sich der Andere so und wie würde ich mich verhalten? Damit werden die Voraussetzungen für Empathie gelegt. Andererseits führen Auseinandersetzungen dazu, dass man sich seiner eigenen Position bewusst wird - und sie entweder verstärkt oder revidiert.

Anerkennung ist also ein interaktiver und vor allem auf Gleichwertigkeit ausgerichteter Prozess, der gerade gegen die Machtasymmetrie und die Duldung gerichtet ist. Anerkennung ist der Prozess, der auf "die gleiche Augenhöhe" zielt. Und dies muss hinzugefügt werden: Erst wenn Personen sich anerkannt fühlen, erkennen sie auch die basalen Normen wie Gleichheit, Gleichwertigkeit und die Integrität an. Dagegen ist der Anerkennungszerfall potentiell mit Desintegration und Gewalthaltigkeit verbunden. Das gilt für Angehörige sowohl von Mehrheit als auch von Minderheiten

IV. Wodurch lässt sich Anerkennung realisieren?

· Auseinandersetzung ist positiv

Toleranz in der Variante von Asymmetrie und Indifferenz zeugt davon, vor allem den konflikthaften Alltag zu ignorieren. Diese Auffassung von Toleranz ist eng verbunden mit der Annahme, dass Konflikte in der Regel destruktiv, mithin zu vermeiden seien. Dies ist in einer modernen Gesellschaft eine fatale Position, denn moderne pluralisierte Gesellschaften werden nicht durch einen homogenen Wertekanon zusammengehalten.

· Differenzen schönschweigen funktioniert nicht

Anerkennung ist aufgrund der Wechselseitigkeit und der notwendigen Auseinandersetzung folgerichtig positiv mit Konflikt assoziiert. Konflikt wird also eher unter konstruktiver Perspektive betrachtet. Dies gilt allerdings wiederum nicht voraussetzungslos, denn es ist gerade im Zusammenhang mit religiösen oder kulturellen Praktiken darauf zu achten, ob es sich um teilbare Konflikte, also des Mehr-oder-Weniger oder um unteilbare Konflikte, also des Entweder-Oder, z.B. im Zusammenhang mit religiösen Konflikten, handelt.

· Schiedsrichter helfen

Die Konflikttheorie postuliert wenigstens drei Bedingungen, um diese konstruktiven Verarbeitungen zu begünstigen: gemeinsamer Hintergrundkonsens in Bezug auf Gleichwertigkeit und physische wie psychische Integrität, Institutionen, die den Prozess organisieren und cross-cuttings, also Personen, die gewissermaßen "Grenzgänger" zwischen den konfligierenden Gruppeninteressen etc. sind. Wie problematisch es ist, wenn bloß Toleranz zelebriert wird, zeigt sich an einem Fallbeispiel. Der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime in Deutschland antwortete vor einiger Zeit auf die Frage, ob das Grundgesetz auch für Muslime gültig sei mit einem "Ja, aber":.. "solange Muslime in der Minderheit sind". Dies sind kalkulatorische Verhaltensweisen, die von einem Toleranzverständnis pikanterweise erst noch verfestigt werden.
Und schließlich ist im Verhältnis von Toleranz und Gewalt latent Gemeinsames zu berichten. Sie richten sich gegen die offene und öffentliche Austragung von Konflikten. Die Gewaltvariante will Konflikte unterdrücken oder entscheiden. Die Befürworter der Toleranz wollen Konflikte umgehen, sie gewissermaßen verschweigen.

· Wer Konflikte zulässt, verhindert Gewalt

Gewalt lässt sich nicht durch Toleranz verhindern, sondern eher durch konflikthaftes Handeln. Nun ist es von der realitätsblinden Toleranz, die Konflikte ignoriert, zu humanitätsblinder Gewalt nur ein kleiner Schritt.Deshalb ist die Debatte um Anerkennungsverhältnisse wichtiger als das Einfordern von riskanter Toleranz, denn dort wo Anerkennungszerfall und Desintegrationserfahrungen auftreten ist Gewalt, nicht weit.
top